Der Lebensmüde

Während ich die großen Stühle raus trage, höre ich unten an der Strassenecke jemanden krakeelen. Zunächst denke ich, es ist der Nachbar mit Tourette-Syndrom, der im Laubengang schräg gegenüber wohnt.  Ich gehe wieder hinein in die Galerie um den großen Orientteppich zu holen. Er ist tonnenschwer und kaum zu packen, allein mit Willenskraft schaffe ich es das raumgroße Ding über zwei der Lehnstühle zu breiten um den Staub ab zu klopfen. An der Straßenecke nach wie vor das Geschrei. Aus dem Augenwinkel sehe ich das der Toutette-Nachbar still auf dem Laubengang steht und selbst in die Richtung des Lärmes schaut. Ich wende meinen Blick zur Hauptstrasse und sehe Blaulichter flimmern. Was ist es diesmal? Krankenwagen? Ja. Und? Polizei? Nein diesmal nicht. Ich laufe auf die Mitte der Strasse und stelle fest: da ist doch mehr im Gange, so das selbst ich, die ich mich von ein paar Blaulichtern längst nicht mehr beunruhigen lasse, meiner Neugierde nachgebe und schauen will was dort vor sich geht. 

Die Feuerwehr hat einen Einsatzwagen positioniert und fährt die Drehleiter aus. Das ist ist schon mal ein echtes Highlight. Ich blicke hoch. Kein Rauch, kein Feuer. Ich laufe noch ein Stück weiter drauf zu, dann sehe ich die ganze Szenerie: von der Hauswand hat sich plötzlich eine Gestalt gelöst, ein halb nackter, junger Mann in Unterhosen hängt zappelnd am Arm des Feuerwehrmannes der im Drehleiterkorb steht. Nun bin ich doch entsetzt, wieso wirkt das so umprofessionell? Der Lebensmüde hängt, zappelt am Handgelenk des Uniformierten und schwingt sich plötzlich an den Korb, klammert sich von außen am Geländer fest. 

Wieso lässt der Feuerwehrmann ihn nicht rein? Wieso ist der Korb überhaupt verschlossen? Müsste der nicht eine Tür haben, damit man rein kann? Ich laufe weiter und dann erblicke ich das aufgeblasene Luftkissen unter der Drehleiter. Ok er soll also fallen. Soll springen. Soll erleben, was er sich vorgenommen hatte. Das ist natürlich eine Mutmaßung, das ein psychologischer Lerneffekt dahinter stecken könnte. Viel wahrscheinlicher ist, das aus Sicherheitsgründen, die zu Rettenden nicht in den Korb klettern dürfen. 

Aber der eben noch zum – nicht unbedingt tödlichen Sprung – bereite Mann will nun nicht mehr. Obwohl er sich nur in der Höhe der ersten Etage befindet und das Luftkissen keine anderthalb Meter unter ihm wabert, hat ihn nun die Angst übermannt. Vollkommen der Lächerlichkeit preisgegeben wiederholt sich das Zappeln und Klammern vor einer nun größeren Gruppe Schaulustiger. Immer wieder kehrt der Nackte zurück an die Hauswand, wird wieder vom Feuerwehrmann gepackt, hängt in der Luft, zappelt, krallt sich am Korb fest. Sein Retter schreit ihn an, ich kann nicht hören, was er ruft im Lärm des Generators, der das Luftkissen gefüllt hält. 

Ein Gruppe von Schaulustigen hat sich rund um das Geschehen gebildet. Nur die Stammgäste aus der Kneipe um die Ecke machen sich nicht die Mühe, die zwei Meter zu gehen, um sich das Spektakel anzuschauen. Ob sie sich bewusst dagegen entschieden haben, sich zu den Gaffern zu gesellen? Ich unterstelle ihnen fast, das sie demonstrativ Desinteresse zeigen. Ich fühle mich schon schäbig, das ich auch hingelaufen bin. 

Der verzweifelte junge Mann klettert nun an der Fassade ein Stück tiefer, über einen Mauervorsprung auf den Markisenkasten des Barbershops im Erdgeschoss. Dann sind es nur noch wenige Zentimeter und endlich lässt er sich in das Luftkissen gleiten, welches unter seinem geringen Gewicht sanft zusammenfällt. Sofort kommen vier Männer und auch eine Frau in Feuerwehruniform, ihn dort herauszufischen. Eine bereitstehende Rollbahre wird eiligst heran geschoben und der junge Mann darauf gelegt. Verletzt ist er sicher nicht, ich befürchte sie brauchen die Bahre um ihn festzuschnallen, denn sofort beginnt wieder ein verzweifeltes Schreien. 

Ich wende mich ab und gehe zurück, ich will nicht zugucken, wie der Lebensmüde sich gegen seine Retter wehrt. Ich versuche das gesehene emotionslos an mir vorüber ziehen zu lassen, will mich nicht fragen was für eine Geschichte dahinter steckt. Ob es der Vater des jungen Mannes war, dessen Kopf man zwischendurch am Fenster sah, ob es Streit gab? Vorwürfe? Eskalation, die ihn zum Sprung getrieben haben? Lautstarke Auseinandersetzungen mit Polizeieinsatz sind in diesem Viertel, ja nicht mal in dieser Strasse eine Seltenheit. Oft ist es einfach nur laut, es wird viel geschrien, dann kommt die Polizei. Der Feuerwehreinsatz ist ein trauriger Höhepunkt, ich komme nicht umhin zu denken, das der verzweifelte junge Mann komplett der Lächerlichkeit preis gegeben wurde. So dramatisch wie die Szene in der Beschreibung klingt, so war die Rettung geradezu eine demütigende Clownerie. Wäre er doch einfach gesprungen in dieses große, weiche, wallende Luftkissen. Vielleicht hätte ihn dieser Entschluss, dieser Moment des Fallens befreit. Statt dessen Angst vor der eigenen Kurzschlussreaktion, aus dem Mut der Verzweiflung wurde ein panisches Klammern ans Leben, das nicht einmal mehr in Gefahr war. 

Wird er in die Psychiatrie eingewiesen? Wird am Abend noch jemand mit ihm sprechen, frage  ich mich viel später. Oder wird er über Nacht mit Medikamenten ruhig gestellt, weil Sonntag ist und erst Montag Morgen jemand Zeit hat mit ihm zu reden, ihm zuzuhören. Er mag nun gut aufgehoben sein in unserem funktionierenden Gesundheitssystem, das aus solchen Menschen leider allzu oft Dauergäste in Verwahranstalten macht, mit einem 100er Block an Gesprächsgutscheinen und Gratis-Drogen auf Rezept. 

An der Galerie angekommen hefte ein Schild an den Orientteppich: 50€. Wenige Minuten später kauft ihn ein begeistertes, junges Mädchen, die zufällig in ihrem alten VW-Bus vorbei braust und vor Lebensenergie leuchtet. Die Sonne versinkt langsam in der Straßenschlucht.

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Ich weiß da was, was was du nicht weißt!

Wer hat Angst vorm …?


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dabei sein

Ringelreigen


Nicht aufgepasst: 6. 

Setzen!


das wird man ja wohl noch...


Peng! du bist tot.

Irgendwann

Das wird nichts mehr.

Ich kann nicht mehr.

Wozu das ganze?

Wen interessiert das noch?

Ich schaffe das nicht.

Ich gebe auf.

Hat das je einen Sinn gemacht?

Ich hasse euch.

Ich hasse mich.

Ich hasse alles.

Es tut mir leid.


Wann?

Bald?

Irgendwann?

Weiß ich nicht.

Ich weiß es doch auch nicht.


Mir tut alles weh.

Ich bin müde.

Mir ist übel.

Mir ist schlecht.

Ich kriege keine Luft.


Wenn doch jemand käme

Wenn ich einfach weglaufen könnte.

Wie schaffen die anderen das?


Morgen?

Irgendwann?